Self-Measurement as Opportunity for Real-World-Evidence in Market Access
Beim Thema Digitalisierung im Gesundheitswesen denkt in Deutschland jeder sofort an das e-Rezept oder die elektronische Gesundheitsakte oder DiGAs (Digitale Gesundheitsanwendungen). Dabei gibt es noch viele weitere spannende Aspekte, in denen die fortschreitende Digitalisierung unserer Welt eine entscheidende Rolle spielen kann, beispielsweise bei der Generierung und Nutzung von Gesundheitsdaten.
Sie sind mittlerweile fast schon omnipräsent: Bewegungstracker, Smart-Watches oder Smart-Phones, mit denen jeder Schritt, unsere Schlaf- und Ruhephasen oder unsere Herzfrequenzen aufgezeichnet werden. Dazu gibt es unzählige Gesundheits-Apps, die uns dabei helfen, die verschiedenen Daten zusammenzuführen und zu interpretieren. Wir vermessen uns selbst, lernen uns besser kennen, verstehen vielleicht gesundheitsrelevante Zusammenhänge und verändern idealer Weise unseren Lebensstil hin zu einem gesünderen Umgang mit uns selbst.
Und dieser Trend wird sich in den nächsten Jahren noch verstärken. Laut des IDC Quarterly Wearable Device Trackers wird die Anzahl der jährlich verkauften Wearables zwischen 2020 und 2024 um 60% wachsen – bei einer angenommen Verwendungsdauer von 4 Jahren hätte dann statistisch gesehen jeder 4,5 Mensch auf der Erde ein solches Wearable.
Sensoren zur Messung von Körperzuständen entwickeln sich von eindimensional einsetzbaren Devices bei einem ganz bestimmten Krankheitsbild (wie z.B. zur Glukose-Messung bei Diabetes) hin zu multidimensional messenden Mini-Laboren, die verschiedensten Bio-Marker messen können (von Körpertemperatur über Ketone und Laktate bis hin zu Alkohol). Solche multidimensionalen Sensoren wurden unter anderem von Abbott und Medtronic / Rockley Photonics vor kurzem angekündigt.
Um all diese Daten sinnvoll verarbeiten zu können, nutzen wir schon heute die unterschiedlichsten Gesundheits-Apps. Im 3. Quartal 2020 standen laut Statista über 82.000 Gesundheits- und Fitness-Apps zum Download bereit. Das Tracken von Gesundheitsdaten für den persönlichen Gebrauch ist also mittlerweile Routine für viele Menschen auf individueller Basis. Wenn diese Daten nun aber nicht nur für das einzelne Individuum nutzbar gemacht werden, sondern systematisch erfasst und dokumentiert werden, kann der Versorgungsalltag von Patient:innen lückenlos analysiert werden.
Durch die gerade beschriebenen technologischen und analytischen Fortschritte stehen immense Datenmengen aus dem Versorgungsalltag zur Verfügung, die die Nutzung von Real World Evidenz auf einer ganz neuen Ebene ermöglicht. Klassische klinische Studien, die immer noch die Basis der etablierten Market Access Prozesse sind, spiegeln oft nicht die reale Welt der Medikamentenverabreichung oder der Medizinproduktnutzung wider. Informationen darüber, wie sich Patienten wirklich fühlen, welche Auswirkungen eine Behandlung auf die Lebensqualität hat, Einblicke in die täglichen Aktivitäten und die Symptome der Patient:innen sowie in klinische oder wirtschaftliche Ergebnisse, fehlen oft. Im Gegensatz dazu hilft Real World Evidenz, die realen Gegebenheiten zu verstehen, in denen ein Medikament, ein Medizinprodukt oder eine andere Behandlung angewendet wird, wie etwa Bevölkerungsgruppen, Versorgungsmuster und die tatsächlichen Belastungen, die durch eine Krankheit entstehen. Darüber hinaus ermöglicht sie eine Beurteilung darüber, wie wirksam eine Therapie auf der Grundlage vorhandener Daten aus dem Versorgungsalltag ist.
Die einfache Datenerfassung über Wearables, Sensoren und Gesundheits-Apps in großem Umfang sorgt dafür, dass viele Einschränkungen, denen Real World Evidenz bisher unterlag, nicht mehr relevant sind. Verzerrungen aus zu kleinen oder zu homogenen Populationen fallen weg, da durch die weitverbreitete Nutzung ein gutes Abbild der Gesamtbevölkerung wiedergeben werden kann. Auch die bisherige variierende Qualität der in der realen Welt verfügbaren Daten durch unvollständige Dokumentation spielt durch die automatisierten Abläufe keine Rolle mehr. Damit erhöht sich die Relevanz von Real World Evidenz für Market Access Prozesse erheblich, da die longitudinalen Patientendaten ein klares Bild über die tatsächliche Behandlungseffektivität im Versorgungsalltag darstellen können.
Ein Beleg dafür, dass auch Unternehmen die Möglichkeiten dieses beständig wachsenden Datenschatzes erkennen, ist die Anfang 2021 abgeschlossene Übernahme des Wearable-Anbieters Fitbit für gut 2 Milliarden US-Dollar durch Google. Auch im direkteren Umfeld der Pharma-Industrie etablieren sich Unternehmen, die Real World Evidence Daten sammeln und analysieren, um diese den Pharma- und MedTech-Unternehmen zur Verfügung zu stellen. Beispiele hierfür sind unter anderem das Münchner Start-Up Temedica, das amerikanische Unternehmen parexel oder die wachsende Anzahl an Unternehmens-Sponsoren der Digital Medicine Society, die sich explizit für die Nutzung digital gewonnener Daten in Zulassungs- und Erstattungsprozessen im Gesundheitswesen einsetzt. Daher wird unser Hang zur Selbstvermessung mit Wearables, Sensoren und Gesundheits-Apps einen wesentlichen Beitrag leisten, Real World Evidenz im Market Access Prozessen in naher Zukunft zu etablieren – ein Trend, den kein Pharma- oder MedTech-Unternehmen verpassen sollte.