Wir brauchen mehr Markt im Gesundheitssystem. Nur anders, als Sie denken.

Schön, dass Sie auch heute wieder – den schweißtreibenden Temperaturen trotzend  – die letzte Energie für einen Klick auf meine Digital Health Notizen aufgebracht haben. Lassen wir es also ruhig angehen, es ist schon hitzig genug.

Von Zeit zu Zeit hilft ein kleiner Blick in die Vergangenheit, um die Gegenwart einzuordnen. Das mache ich selbst gar nicht besonders bewusst, manchmal passiert das einfach, Sie werden es kennen: Ein Geruch, ein Satz, ein Gesicht, eine vertraute Umgebung und schon ziehen Bilder aus längst vergangenen Jahren am inneren Auge vorbei. Und gar nicht so selten stelle ich dann immer wieder fest: So schnelllebig ich meine Umwelt auch oft wahrnehmen mag – manche Dinge um mich herum sind ganz erstaunlich beständig, Trennungen zum Beispiel – nach wie vor unfassbar schmerzhaft. Haben Sie schon einmal die Bank gewechselt? Ihren E-Mail-Provider? Den DSL-Anbieter? Bei den besonders empathischen Leser:innen möchte ich mich an dieser Stelle für das schmerzhafte Feuerwerk Ihrer Spiegelneuronen entschuldigen.

Bei mir war es nach einer langen, eigentlich wirklich erfüllten Beziehung: der Hausarzt. Da hat man gemeinsam so viel durchgemacht, man schätzt sich, man versteht sich ganz ohne große Worte. Der Mann kennt mich, mit all meinen großen und kleinen Wehwehchen. Sie können sich vorstellen, wie schwer, wie schmerzhaft da der Kaltstart in einer neuen Praxis ist – insbesondere, wenn der neue Lebensabschnitt mit einem „Wir bräuchten von Ihrem alten Hausarzt dann auch noch alle Ihre alten Befunde.“ beginnt. Und plötzlich ist es wieder 2005, ich bin gerade frisch in die Stadt gezogen und sehe mich verschwommenen an der Anmeldung meines neuen Hausarztes stehen. Karteikarten werden geschrieben, schwungvoll schlagen im Hintergrund Schubladen voll knisternder Hängeregister zu und leicht gedämpft höre ich: „Von Ihrem vorherigen Hausarzt, da bräuchten wir dann noch Ihre Befunde.“ Ja, manche Dinge sind erstaunlich beständig.

Jetzt war das in der Realität und ganz praktisch natürlich keine wirklich große Sache – und so habe ich mich natürlich auch nicht beschwert, wieso auch? Zum einen ist das ja kein vorsätzlich schlecht gestalteter Prozess – das läuft eben so. Zum anderen kommt so ein Arztwechsel ja bei mir nicht so oft vor, kann man also verkraften. Und: Welches Recht hätte ich denn auch, mich zu beschweren, kostet ja nicht wirklich was. Man schreibt seiner alten Praxis eine Mail, jemand leitet sie an Arzt oder Ärztin weiter, es wird bestätigt, dass das alles seine Richtigkeit hat, die Unterlagen werden zusammengesammelt, verpackt, frankiert, in die Post gegeben und sind – so sie beim Versand nicht verloren gehen – schon binnen einer Woche bei mir oder meinem neuen Hausarzt im Briefkasten: Bereit, mühsam entziffert und interpretiert zu werden, um ein Mindestmaß an medizinischer Vorgeschichte als Proviant für den neuen, gemeinsamen Weg im Gepäck zu haben.

Falls noch Zweifel bestehen sollten: Doch, das ist eine große Sache – und doch, das kostet: Nämlich Zeit, Geld, sowie meine und die wertvolle Aufmerksamkeit all der medizinischen Fachkräfte im Gesundheitssystem – jedes einzelne Mal, allein, wenn jemand Arzt oder Ärztin wechselt.

Geht es heute also um die elektronische Patientenakte, also um eine der Herausforderungen, die tatsächlich schon aktiv angegangen werden und deren Umsetzung schon relativ fortgeschritten ist? Keineswegs. Es geht um uns – also um mich, um Sie, und: um mehr Markt im Gesundheitssystem. Genauer gesagt: Ganz speziell um bessere Nachfrage.

Also: Warum ist der oben beschriebene Prozess denn so, wie er ist? Auf den ersten Blick, weil wir es in Deutschland immer noch nicht geschafft haben, die ePA flächendeckend einzuführen und auszurollen. Auf den zweiten Blick, weil hierfür große technische, rechtliche, und prozessuale Hürden bewältigt werden mussten. Aber auch: Weil auch die Praxen selbst weder Anreiz noch Mittel haben, diesen Prozess zu verbessern. Am Ende aber vor allem: Weil wir, die Patient:innen es nicht anders nachfragen.

Bereits in den frühen 2000ern hat Handelsriese Amazon festgestellt: Schon 100ms längere Ladezeit führen zu einem Umsatzrückgang von etwa 1%. Weil potenzielle Kunden nicht warten möchten, kauft also 1% schon bei einer minimalen Wartezeit entweder gar nicht oder eben woanders. Die Folge war (unter anderem) rigorose Optimierung mit dem Ziel der bestmöglichen Nutzererfahrung: Kaufen musste schnell und einfach sein – so einfach wie ein Klick auf den „1-Click-Kauf“ Button bei Amazon. Convenience gleich Umsatz.

Jetzt mögen Sie zu Recht sagen: So funktioniert das aber in unserem Gesundheitssystem eben nicht. Denn zum einen haben wir es in Deutschland praktisch mit einer Gesundheits-Flatrate zu tun – da gehört es doch dazu, kleine Stolperer zu ertragen. Zum anderen – so lehrt uns das SGB V in §12 – kommt unser Gesundheitssystem ausdrücklich nicht für „Convenience“ auf: „Die Leistungen müssen ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein; sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. (…)“. Wie gesagt, „Marktmechanismen“ greifen hier eben nicht. Eigentlich schade, denn Convenience ist nicht nur Teil einer Umsatzfunktion. Convenience hat erstaunlich oft mit Effizienz zu tun: Wenn Ihnen heute irgendwo ein Chatbot bei Ihrer Kundenanfrage schnell und abschließend weiterhilft, ist das natürlich bequem für Sie. Es ist aber vor allem eins: billiger für das leistende Unternehmen. Aus demselben Grund bezahlen Arzt-Praxen ja auch für Terminportale – natürlich ist das bequemer für die Patienten, aber vor allem fällt dadurch Admin-Aufwand weg und es fallen weniger vergessene Termine aus.

Worauf ich hinaus will? Ich bin fest davon überzeugt, dass wir Patient:innen eine wichtige Triebkraft für eine bessere Versorgung sein könnten – und dass ein bisschen „Mehr Markt“ unserem Gesundheitssystem guttun würde. Denn Selbst wenn wir das deutschen Versorgungsmodell als Flatrate-Modell interpretieren, bezahlen wir dafür und sollten aktiv seine Weiterentwicklung fordern. Dafür braucht es zum einen eine bessere Nachfrage unsererseits – und zum anderen wahrscheinlich auch einen kritischen Blick auf das Sozialgesetzbuch: Denn vielleicht ist es langfristig gar nicht der beste Weg, nur Anreize für eine wirklich „notwendige“ Versorgung zu setzen: Convenience und Effizienz, das klingt doch eigentlich ganz gut, oder?

Ich für meinen Teil werde mich jetzt wieder dem Convenience Teil meines Sommer-Urlaubes widmen, man muss es ja nicht übertreiben bei der Hitze – und wir lesen uns an dieser Stelle in zwei Wochen wieder, wenn Sie mögen.

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