Schluss mit den Ausreden – Mehr Digitalisierung oder weniger Versorgungsqualität

Schön, dass Sie sich auch heute wieder ein wenig Zeit aus Ihren vollen Terminkalendern schneiden, um mit mir durch die Digital Health Notizen des vergangenen Monats zu blättern. Wobei – eigentlich müssten Sie ja jetzt genug Zeit haben, oder?

Wie ich darauf komme? Lassen Sie mich wieder einmal ein klein wenig ausholen: Mein täglich Brot ist „Digital Health“, eben auch einschließlich der Digitalisierung im Gesundheitssystem. Und wie Sie sich sicher denken können, geht seit mehr als zwei Jahren auch kein Weg mehr an einem ganz besonderen Thema vorbei: An KI, künstlicher Intelligenz. Das Interesse ist im Grundsatz auch erst einmal verständlich: Haben nicht die meisten von uns zu Beginn fasziniert mit ChatGPT experimentiert? Haben nicht die meisten von uns geradezu berauscht beobachtet, wie „Dall-e“, „MidJourney“ und Konsorten auf unser Geheiß hin „Gelsenkirchen im Stil der Sternennacht Vincent van Goghs“ zauberte – oder zumindest etwas in diese Richtung? Und in keinem Projekt bin ich seither an einer Frage vorbeigekommen: In welchem Maß, wo und wie wird die Digitalisierung, insbesondere künstliche Intelligenz, Jobs ersetzen – sei das im Gesundheitswesen oder anderswo. Und auch diese Frage ist absolut verständlich. Wer heute ein normales Smartphone mit Kamera hat, kann z. B. Muttermale recht zuverlässig über diverse Apps erst-einschätzen lassen. Symptom-Checker haben einen gewaltigen Schritt nach vorne gemacht und sind inzwischen um einiges hilfreicher als es „Dr. Google“ bisher war. Vorschläge für E-Mails und Marketing-Texte, automatische Meeting-Zusammenfassungen – gar ganze Workflows. Daher also meine Vermutung: Sie müssten eigentlich jetzt recht viel Zeit übrig haben, oder?

Kein Angst, so weltfremd bin ich natürlich nicht. Wenngleich KI und Automatisierungen mir selbst schon einige lästige Routinearbeiten abgenommen oder erleichtert haben, dürften weder ich noch irgendjemand, der im Gesundheitssystem tätig ist, aktuell tatsächlich um den eigenen Job bangen. Nehmen wir zum Beispiel die Diabetesversorgung: Bis 2030 werden wir – je nach Berechnung – zwischen 400 und 900 weniger Diabetologen in Deutschland haben. Immer mehr werden in den kommenden Jahren in den wohlverdienten Ruhestand gehen und immer weniger kommen nach: Die Hörsäle bleiben vielerorts leer. Nun wäre dies allein schon genug Grund zur Sorge – aber: Auch die Prävalenz von Diabetes in der Bevölkerung nimmt stetig zu. Bis 2030 – wieder je nach Berechnung – müssen wir mit 1 Mio. mehr Diabetes-Erkrankungen in Deutschland rechnen. Für Diabetologen bzw. diabetologische Schwerpunktpraxen bedeutet das also: Die Kolleg:innen werden weniger und die Patient:innen, die es zu versorgen gilt, werden mehr. Um es ganz flapsig zu sagen: In der Diabetesversorgung besteht auf absehbare Zeit keine Gefahr der Langeweile. Und in allem Ernst bedeutet das: Wenn die Qualität der Diabetes-Versorgung aufrechterhalten werden soll, müssen wir uns ernsthaft Gedanken machen.

Die Optionen sind begrenzt: Diabetolog:innen könnten ihren Ruhestand verschieben – in der Masse weder wahrscheinlich noch nachhaltig. Und wir könnten natürlich versuchen, mehr Diabetolog:innen auszubilden und/oder zugleich Diabetes als Krankheit stärker zu bekämpfen. Hehre Ziele – die allerdings mit einem Blick auf die aktuellen Entwicklungen nicht rechtzeitig umsetzbar sind, um die Qualität der Diabetesversorgung auch nur ansatzweise aufrechthalten zu können. Die akuten Fragen, die wir uns stellen müssen, sind also nicht: „Wie kommen weniger Patient:innen in die Praxen“ oder „Wie stehen mehr Praxen zur Verfügung“. Die Frage ist: „Wie kann derselbe HCP mehr Patienten in kürzerer Zeit bei gleicher Qualität versorgen?“ oder kurz: „Wie machen wir die Behandlung effizienter?“. Und der Schlüssel hierzu – wenn auch nicht das Allheilmittel – ist zweifelsohne die Digitalisierung in der Versorgung.

Ein Arzt sagte mir vor Kurzem: „Ich muss die MTAs endlich weg von der Rezeption zum Patienten bringen.“ Mit mehr Patient:innen, die in kürzerer Zeit versorgt werden müssen, wird die Zeit für administrative und repetitive Aufgaben zum Luxus: Terminvereinbarung, Stornierungen, Umbuchungen: Ab zu Doctolib und Konsorten. Anamneseformulare und Vorgespräche: Ab aufs Smartphone, angereichert mit allen nützlichen digitalen Daten zur Patient:innen-Geschichte, ob sie nun von der Smartwatch oder aus der elektronischen Patientenakte kommen. Kurze Check-Ins: Ab in den Video-Call. Blutzucker-Tagebuch: Ab in die App, am besten noch automatisch über einen Sensor protokolliert. Zusammenführung der Messwerte: Angebote wie „glooko“ führen verschiedenste Datenquellen in einem Interface zusammen.

Dass es bei alldem ein ganzes Füllhorn an „Abers“ gibt – seien es Datenschutzfragen oder die Frage, wie wir sicherstellen, dass auch jede:r Patient:in mit solchen Technologien umgehen kann: Das ist klar – „aber“ eben auch keine Ausrede mehr. Eine pragmatische und umfassende Digitalisierung ist neben HCP-Nachwuchs- und Präventionsfragen zentral – wenn wir die Qualität der Versorgung aufrechterhalten oder gar verbessern möchten.

Ich setze mich jetzt mit einem Glas Wein auf die Couch – ich habe ja Zeit. Und wir sehen uns nächsten Monat an dieser Stelle wieder – wenn Sie mögen.

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