Kontrollverlust voraus

Schön, dass Sie mir auch heute wieder Gesellschaft leisten, um gemeinsam durch meine Digital Health-Notizen zu blättern. Heute ist meine Freude sogar noch etwas größer als sonst, denn: Ich strebe einem seltenen Moment entgegen.

Aber lassen Sie mich ausholen: Zum Thema „Lebensziele“ gibt es ja ganz verschiedene Ansichten – die einen führen und verfolgen ambitionierte „Bucket-Lists“ mit Dingen, die sie in ihrem Leben tun, erreichen, lernen oder erleben möchten. Gern genommen sind hier etwa die Besteigung eines Achttausenders oder der Kauf eines Sportwagens. Andere dagegen nehmen das Leben einfach, wie es kommt – im eher entspannten Streben nach „einer guten Zeit“. Ganz grundsätzlich liege ich irgendwo dazwischen: Planvoll-spontan könnte man sagen. Seit Langem aber schon strebe ich vor allem nach ganz besonderen Momenten, den raren und wertvollen Augenblicken im Leben eines Ehemanns und Vaters. Momenten, in denen ich sagen kann: „Ha, hab ich doch gesagt!“

Anders als meine Familie hat mir der deutsche Gesundheitsmarkt schon ein paar dieser unvergesslichen Momente geschenkt: Anfang des Jahres etwa haben wir an dieser Stelle darüber gesprochen, dass Amazons Ambitionen im Arzneimittelvertrieb (Amazon Pharmacy) in meinen Augen durchaus keine weitere, undurchdachte Fehlinvestition des Konzerns sind – sondern mit großer Wahrscheinlichkeit Teil des großen Plans, eine maßgebliche Rolle im Gesundheitsmarkt zu spielen. Im Juni habe ich mich der Frage gewidmet, welche Rolle Apple mit all seinen Gesundheits-Apps, Sensoren und Devices wohl in Zukunft anstreben wird – vor allem, wenn es um unsere Gesundheitsdaten geht. Und im August haben wir uns damit beschäftigt, wie dringend unsere Apotheken Ihre Rolle neu definieren müssen, um mit einer neuen digitalen Realität mithalten zu können.

Nun: Gerade heute wieder streiken Deutschlands Apotheken, während Amazon in den USA ganz aktiv an 1-Stunden-Drohnenlieferungen für Medikamente arbeitet, Prime-Abonnenten in den USA mit „RxPass“ für 5$ Aufpreis pro Monat eine Flatrate für viele Medikamente buchen oder für 9$ Aufpreis pro Monat die Gesundheitsdienste von One Medical nutzen und ich mir hier in Deutschland schon eine beachtliche Auswahl an nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten einfach in den Warenkorb legen kann. Während ich Medikamente (inkl. Nebenwirkungs-Check), Trainings, Sauerstoffsättigung und externe Sensor-Daten schon eine gefühlte Ewigkeit in meiner Apple Health App übersichtlich und sekündlich dokumentieren kann, haben wir hierzulande nach wie vor keine flächendeckende elektronische Patientenakte und diskutieren noch immer die Anforderungen an die Telematik Infrastruktur. Immerhin: Das e-Rezept soll 2024 zum Standard werden, nun ja. Nun bin ich bei Weitem nicht der Einzige, der schon lange immer wieder auf diese Missstände hinweist, und dringend notwendigen Pragmatismus predigt – und es wäre auch zu kurz gegriffen, die bisherigen Bemühungen einfach abzutun – aber das reicht eben nicht. Denn für mich steht fest: Wir verlieren hier zunehmend die Kontrolle: Über die Arzneimittel-Versorgung, unter anderem weil unsere Apotheken sich panisch an einen Status Quo klammern, um den herum sich Patient:innen längst digitale Trampelpfade suchen. Über unsere Gesundheitsdaten, weil wir so lange eine zeitgemäße Infrastruktur planen, bis wir sie nicht mehr brauchen, während Dritte uns unsere „Datenspenden“ so leicht wie nie machen. Und wir drohen die Kontrolle über den ganz grundlegenden Fokus unserer Gesundheitsversorgung zu verlieren: Von der „bestmöglichen Versorgung für alle“ hin zum „höchstmöglichen Profit“.

Sie werden verstehen, was ich meine: So bestätigend ein „Hab ich doch gesagt!“ in einem Moment dann auch wäre, so bitter ist es schon einen Moment später. Denn diesem ach so triumphalen Satz gehen stets gutgemeinte Warnungen voraus – eben um eine bestimmte Entwicklung zu verhindern. Ich wage einmal zu verallgemeinern: Keiner von uns will einen solchen Kontrollverlust wirklich. Kein Apotheker möchte in der Versenkung verschwinden. Und kaum jemand in der Politik möchte für die Arzneimittelversorgung zu großen Teilen von einem US-amerikanischen Alles-Händler abhängig werden oder die hochsensitiven Gesundheitsdaten der eigenen Bürger ins Ausland abfließen sehen. Aber einfach nur zu hoffen, dass all die Schwarzmaler letztlich doch nicht rechtbehalten, ist eben auch eine schwache Strategie. Es wird Zeit, dass wir nicht mehr zaudern und zögern, diskutieren und lamentieren, sondern mit der digitalen Transformation unseres Gesundheitswesen beginnen – denn sonst passiert es auf andere, unkontrollierte Weise  – und ich möchte nicht erleben, dass ich in dann sagen muss: „Ha, hab ich doch gesagt!“

Ich bestelle mir jetzt eine Kleinigkeit zu Essen – und ein paar Aspirin. Und wir lesen uns an dieser Stelle in zwei Wochen wieder, wenn Sie mögen.

Anfrage senden

Ihr Ansprechpartner

Torsten Christann
Managing Partner

diga@diox.de
+49 172 / 45 43 31 0