Auf dem Weg zu „Prime Health“

Heute geht es um Amazon, die abgeschlossene Übernahme von One Medical und die brennende Frage, ob Amazon mit diesem Zukauf den Gesundheitsmarkt auf den Kopf stellen wird.

Im Februar hat sich Amazon für geschätzte knapp vier Milliarden US-Dollar den Gesundheitsdienst One Medical in den eigenen Warenkorb gelegt, der per Abo-Modell eine medizinische „Grundversorgung“ sicherstellen soll: Für einen Jahres-Beitrag von 200 US-Dollar erhalten die Abonnenten Zugang zu mehr als 200 angeschlossenen Arztpraxen, bei welchen sie dann rund um die Uhr Termine buchen können – auf Wunsch auch zur virtuellen Sprechstunde. Aktuell soll das Angebot bereits 815.000 Kunden zählen.

In meinem Netzwerk nehme ich zahlreiche kritische Stimmen wahr, die diese Übernahme als eine „weitere Fehlinvestition“ von Amazon sehen: Immerhin hat sich der Konzern bereits bei anderen Healthcare-Abenteuern eine blutige Nase geholt. Man denke an Amazon Care, den Telehealth-Service, der seit 2019 in gut 20 US-Großstädten etabliert werden sollte, und schon 2022 wieder eingestellt wurde. Oder an den Versuch, zusammen mit JP Morgan und Berkshire Hathaway im Joint Venture „Haven Healthcare“ 2018 eine eigene Krankenversicherung aufzubauen: Ebenfalls 2021 eingestellt. Oder auch ein Programm, über das Amazon-Kunden mit Hilfe von Alexa Arzttermine buchen konnten, sich nach Klinikaufenthalten bei der Nachsorge unterstützen lassen konnten oder den Status von Medikamentenlieferungen erfragen konnten – ebenfalls Ende 2022 eingestampft.

Fordern diese kritischen Stimmen also zurecht: „Schuster, bleib bei Deinen Leisten.“? Aus meiner Sicht sind all diese Projekte absolut keine Beispiele für Amazons fehlende Eignung für den Gesundheitsmarkt, eher ganz im Gegenteil: Wir sehen hier – „live und in Farbe“ – zu, wie Amazon sondiert, lernt was funktioniert und was nicht, um ultimativ im Gesundheitsmarkt erfolgreich zu sein. Die scheinbar teuren Experimente im Gesundheitsmarkt, die das Unternehmen schon nach kurzer Zeit wieder aufgibt, folgen einer einfachen aber effizienten Philosophie: „Fail Fast, Learn Fast“ – man probiert aus und wenn sich nach einer gewissen Zeit kein Erfolg eingestellt hat, macht man sich ein paar Notizen und schreitet zum nächsten Projekt voran.

Zugleich sollte man dieses Vorgehen in meinen Augen aber keinesfalls mit fehlendem – Neudeutsch – Commitment gleichsetzen: Wie ernst es Amazon mit dem Gesundheitsmarkt ist, zeigt gerade die One Medical Übernahme recht eindrucksvoll: Es ist die drittgrößte Akquisition der Firmengeschichte. Mehr hat der Konzern bisher nur für die Supermarktkette Whole Foods und die Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) Filmstudios ausgegeben. Plus: Amazon hat bei Weitem nicht jedes seiner Gesundheitsprojekte eingestellt: Schon seit 2018 ist man im Apothekenmarkt aktiv, als Folge einer 770 Millionen US-Dollar-schweren Übernahme der Versandapotheke Pillpack, die sukzessive weiter in das Amazon-Portfolio integriert wurde: 2019 wurde Pillpack zu „Pillpack by Amazon Pharmacy“ seit und 2020 bietet Amazon mit der „Amazon Pharmacy“ eine eigene, vollumfängliche Arzneimittelversorgung per Versand an.

Aber wie sieht Amazons Interesse am Gesundheitsmarkt nun aus? War der Plan, sich mit One Medical und den vielen angeschlossenen Praxen einfach nur eigene Verordnungswege zu sichern und die Umsätze der Amazon Pharmacy in die Höhe zu treiben? Ich denke, Amazon holt Schwung, um ein ein deutlich größeres Rad zu drehen: Da sind die vielen weiteren Investitionen in Unternehmen aus den verschiedensten Bereichen des Gesundheitswesens, wie z.B. doctolib (Online-Terminbuchungsplattform), Tyto Care (Telemedizinische Geräte), Canvas Medical (elektronische Patientenakte), Care Angel (virtuelle Pflegeassistenz), MedCrypt (Cybersicherheit für Medizinprodukte), Halo (Wearables zur Messung von Körperzuständen) oder Truepill (B2B-Plattform für Apotheken). Das lässt für mich wenig Zweifel: Amazon sucht keine Nische – das würde auch so gar nicht zum Selbstverständnis des Konzerns passen. Amazon ist entschlossen, eine zentrale Rolle im Gesundheitswesen einzunehmen. Und offenbar sieht Amazon hier eine Nutzererfahrung, die ganz besonders dringend neu erfunden werden muss.

Für mich stellt sich daher nicht die Frage, ob Amazon Ambitionen im Gesundheitsmarkt hat. Die einzige Frage ist, wie schnell sich ein Amazon-Healthcare-Ökosystem entwickeln wird.

Für die etablierten Unternehmen aus Pharma und MedTech bedeutet das, sich auf diesen neuen Partner vorzubereiten. Reine Defensivarbeit wird hier der falsche Weg sein – ich bin sicher, der Koloss hat einen langen Atem und ausreichende finanzielle Mittel. Es gilt zu evaluieren, wie man mit diesem neuen Spieler auf dem Markt zusammenarbeiten kann, damit man Ende von Amazon mitgenommen und nicht überholt wird.

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