„Herr Doktor, ich habe gegoogelt.“

Sie alle wissen vermutlich, wie sich „Panik“ anfühlt – das Blut wandert in die Extremitäten, der Blick schärft sich, das Herz schlägt schneller, alle Zeichen stehen auf Flucht oder Kampf. Gut, so schlimm war es nicht ganz, als ich neulich feststellte, dass ich meinen Impfpass nicht finden konnte. Aber so ein bisschen zog meine Patientengeschichte dann schon an meinem inneren Auge vorbei: Ich sehe mich an den Tresen meiner Hausarzt-Praxis treten: Einem freundlichen „Ja bitte?“ folgt ein verängstigtes „Ich habe meinen Impfpass verloren“. Der Arzt wird dazu gerufen, das ist jetzt Chefsache. Den Rest der Tragödie entnehmen meine Hinterbliebenen der lokalen Presse….

Verstehen Sie mich richtig: Ich schätze jede:n einzelne:n meiner Ärzt:innen über die Maßen. Trotzdem oder gerade deshalb wird man mir eine gewisse Obrigkeitshörigkeit oder – nennen wir das Kind beim Namen – eine gewisse respektvolle Angst – nicht mehr aus den Knochen bekommen. Ich bin aufgewachsen mit einem nahezu unkritischen Verhältnis zwischen mir und „dem Herrn“ bzw. „der Frau Doktor“, der selbstverständlichen Unanfechtbarkeit einer jeden Diagnose, der unumstößlichen Verpflichtung, den ärztlichen Weisungen Folge zu leisten – eben Halb-Götter in Weiß für mich.

Doch – zugegebenermaßen – auch ich bin über die Jahre mutiger geworden. Inzwischen entfleucht mir von Zeit zu Zeit die ein oder andere Rückfrage oder Anmerkung in der Sprechstunde. Doch mehr als Mut hat meine ärztlichen Interaktionen vor allem eins verändert: Informationen. Wie oft ich für eine mitgebrachte und vorsichtig vorgebrachte Horror-Eigen-Diagnose ein Augenrollen kassiert habe, kann ich nicht mehr genau sagen. Doch den vielen nutzlosen Diagnosen von „Dr. Google“ steht auch eine gute Hand voll wertvoller (Kontext-) Informationen gegenüber, die ich in der Vergangenheit bereits mit in eine Sprechstunde genommen habe – und die keineswegs auf ärztliche Ablehnung stießen. Das einfachste Beispiel sind wohl die Gesundheitsdaten einer Apple-Watch, um Arzt oder Ärztin den Pulsverlauf der letzten Wochen aufzuzeigen – und damit aktiv und kritisch an der Behandlungsgestaltung teilnehmen zu können. „Patient Empowerment“ nennt man das: Die verstärkte Mündigkeit der Patient:innen.

„Patient Empowerment“ krempelt unaufhörlich das Verhältnis zwischen Patient:in und Ärzt:in um –die gesamte Interaktion und Kommunikation zwischen Beiden verändert sich. Der Trend geht zum Team, man ergänzt sich, tauscht sich aus und ja: hinterfragt sich durchaus. Jetzt ist das natürlich per se nicht neu und Ärzt:innen sind und waren in den seltensten Fällen auf ein „Friss-oder-stirb“-Verhältnis zu ihren Patient:innen aus – Zusammenarbeit, ein offener Austausch und natürlich Patient:innen-seitige Adhärenz waren und sind schon immer unabdinglich für den Behandlungserfolg.

Warum also beschäftigt mich das Thema „Patient Empowerment“? Weil der Zugang zu Informationen mit all den (technischen) Entwicklungen der jüngsten Zeit ein neues Niveau erreicht hat. Damit geht ein unvorstellbares Potenzial einher, Behandlungen effizienter zu machen: Wearables tracken mehr (relevante) Gesundheitsdaten als je zuvor, Sensoren sind so kompakt und ausdauernd wie nie, aber vor allem: Daten werden zunehmend für die Patient:innen aufbereitet, in Kontext gesetzt, in Empfehlungen übersetzt und Medien-Liebling ChatGPT beantwortet bereitwillig nahezu jede Gesundheitsfrage. Patient:innen hatten nie mehr Zugang zu ihren eigenen Gesundheitsdaten und Gesundheitsinformationen.

Nehmen wir jedoch die beiden Extrem-Beispiele eines Sensors für kontinuierliche Glukose-Messung (CGM) und einer ChatGPT-Diagnose, werden die Herausforderungen klar, die mit dieser Entwicklung einhergehen: Von „Patient Empowerment“ dürfen wir guten Gewissens nur sprechen, wenn dadurch die Rolle der Patient:innen in ihrer Behandlung auch wirklich aufgewertet wird: Wenn ein CGM faktenbasiert empfiehlt, ich solle spätabends ein bestimmtes Nahrungsmittel meiden oder nachmittags mehr joggen, ist das Empowerment. Wenn mich ein LLM (Large-Language-Model) wie ChatGPT (bei allem Potenzial) oder Google-Diagnosen mit wöchentlich neuen Sorgen in die Arztpraxis entsenden, ist damit niemandem so wirklich gedient. Wenn ein:e Diabetolog:in sich mehr Zeit für mich nehmen kann, weil die Auswertung meiner Glukose-Werte bereits automatisch aufbereitet wurde, gewinnen wir beide. Wenn mein Arzt 90% unserer gemeinsamen Zeit Halbwissen und Falsch-Informationen filtern muss, verlieren wir beide.

Ich sehe zwei wichtige Kriterien für echtes, nachhaltiges „Patient-Empowerment“:

– Informations-Kompetenz: Für Patient:innen ist es nun nicht mehr nur essenziell, die klassischen Fake-News aus Medien zu identifizieren, sondern auch zu verstehen, woher vertrauenswürdige Gesundheitsinformationen kommen und woher nicht, welche Relevanz sie für mich haben und welche Schlüsse ich daraus zu ziehen habe – das bedarf einer enormen Kompetenz.

– Aktive Zusammenarbeit: Ein Medizinstudium macht keine (Halb-)Götter in Weiß – ebenso wenig wie eine Google-Suche. Was Ärzt:in und Patient:in vereint, ist der Wunsch nach Besserung, nach einer erfolgreichen Behandlung. Von beiden Seiten braucht es daher ganz bewusst Verständnis und Offenheit: Für Ärzt:innen heißt das, auch weiterhin ganz bewusst Patient Empowerment zu fördern und das Wissen der Patient:innen in die Behandlung einzubeziehen. Aber eben auch aufzuklären: Warum ist diese Quelle nicht glaubwürdig? Für Patient:innen heißt das, bei allen neuen Wissens- und Informationsmöglichkeiten ein gutes Maß an Bescheidenheit gegenüber der Fachkompetenz des ärztlichen Gegenübers zu behalten.

Das Potenzial ist enorm: Bereits heute unterstützen Portale und Apps wie PINK! oder Mika Krebs-Patient:innen bei täglichen Check-Ups und im Umgang mit ihrer Erkrankung, helfen Medikamenten-Management-Apps dabei, keine Pille mehr zu vergessen, behalten Chroniker ihren Krankheitsverlauf mit digitalen Tagebüchern im Blick. Massen an hoch-persönlichen Informationen (nicht nur Daten), die im Idealfall nicht nur zu besseren Behandlungen, sondern zur Prävention genutzt werden können: Hinter „Patient-Empowerment“ steckt weit mehr als die Stärkung der Patient:innen-Rolle – wir sprechen von der Chance, die Zusammenarbeit aller Akteure in der Behandlung aktiver, informierter und effizienter zu gestalten.

Ich suche jetzt weiter nach meinem Impfpass, vielleicht hat Dr. Google ihn ja gesehen, und wir lesen uns in zwei Wochen an dieser Stelle wieder, wenn Sie mögen.

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