Eine Digitalisierungsstrategie für unser Gesundheitswesen

Machen wir uns also ein Feuer im Kamin an und schwelgen in Erinnerungen. Alles sah so vielversprechend aus: Im Jahr 2002 nutzten in Deutschland bereits über 90% der Ärzt:innen einen Computer für ihre Arbeit. Damit war Deutschland in diesem Punkt ein wahrer Vorreiter, in bester Gesellschaft z. B. der Nordics oder der Niederlande. Ab 2008 attestierte man der Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen im EU-Vergleich plötzlich nur noch „solide Durchschnittswerte“. Ein Urteil, das auch in den Folgejahren nicht gnädiger ausfallen würde. Und auch das so verheißungsvolle deutsche „E-Health-Gesetz“ von 2015 hatte in der Versorgungswirklichkeit keinen großen Effekt. So finden wir uns dann spätestens ab 2018 in verschiedenen EU-Ländervergleichen auf den hinteren Rängen wieder – etwa beim EU-Benchmark „Digitalisierungsstrategien“ der Bertelsmann-Stiftung: Platz 16 von 17. Dass unser Ranking in der digitalen Gesundheit inzwischen mit der deutschen ESC-Platzierung konvergiert, stimmt weder mich noch die politischen Akteure oder Wirtschaftsvertreter zufrieden.

Jetzt können wir uns noch viele Seiten lang mit den weithin bekannten Gründen für diese Entwicklung befassen, aber da wäre für Sie, liebe Leser: innen, nichts Neues dabei. In aller Kürze: Standort-spezifische Digitalisierungshürden, „schwierige“ Konstellationen zwischen den Akteuren, Bürokratie, hohe Technologiekosten, Sicherheitsbedenken, regulatorische Unsicherheiten. Klappen wir besser das Geschichtsbuch zu und schauen nach vorne – guten Mutes, möchte ich hinzufügen: Denn die vorgestellte Digitalstrategie aus dem Bundesgesundheitsministerium ist für mich ein echter Meilenstein. Eine politisch recht verbindliche, aber vor allem überaus umfassende Zusammenstellung konkreter Ziele und (soweit wie möglich) sehr konkret formulierter Maßnahmen, sinnvoll in kurzfristige und mittelfristige Vorhaben unterteilt, und auch auf den zweiten Blick durchaus realistisch.

Was mich am meisten begeistert: Nichts davon ist neu – und das ist kein Seitenhieb meinerseits. Genauso wie bei dem historischen Abriss zu Beginn dieses Textes gibt es eine erfreuliche Überschneidung zwischen den Kernpunkten der vorgestellten Digitalstrategie und wissenschaftlichen Veröffentlichungen wie z. B. der „Studie zum deutschen Innovationssystem“ der „Expertenkommission Forschung und Innovation“ von Ende 2022: Da lesen wir von der Bedeutung der Interoperabilität im Gesundheitssystem, der notwendigen Vernetzung und der dahinterliegenden Telematik-Infrastruktur, den nächsten, wichtigen Schritten zu Ausbau und Umsetzung der ePA und so weiter. Das Schöne: Es handelt sich um eine wissenschaftliche Studie, zwar nicht aus dem von Minister Lauterbach gern zitierten Umfeld von Harvard, sondern durchgeführt vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI). Inwieweit solche Veröffentlichungen für die vorliegende Digitalstrategie tatsächlich vom Gesundheitsministerium in Betracht gezogen wurden, ist mir persönlich recht egal. Mich stimmt es einfach positiv, politische Visionspapiere von einer soliden wissenschaftlichen Basis unterstützt zu sehen.

Sie ahnen es vermutlich schon – ohne ein „Aber“ geht es auch heute nicht. Denn selbst eine sehr gute, durchdachte Strategie ist eben nun einmal nur eine Strategie. Und es ist ja auch nicht so, dass es nicht schon viele, gute Pläne für die Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem gegeben hätte.

Die Versicherten bzw. Patient:innen in Deutschland stehen der Digitalisierung im Gesundheitswesen wirklich aufgeschlossen gegenüber, und von der Selbstverwaltung bis zur Industrie wird man ebenfalls niemanden finden, der die Vorteile dieser Digitalisierung nicht grundsätzlich begrüßen würde – so lange die eigenen Interessen nicht negativ tangiert werden. Und so kommen wir zu meinem „Aber“: Ohne Kompromisse wird es nicht gehen.

Ein Gedanke, den ich allen Beteiligten – der Politik, der Selbstverwaltung, den Leistungserbringern, der Industrie, und selbst uns Patient:innen ans Herz legen möchte: Ja, die Digitalisierung im Gesundheitssystem wird viel verändern. Und sicher, das wird nicht ohne Knirschen von Statten gehen, nicht alles wird sofort funktionieren. Und absolut, die einen werden von den Entwicklungen stärker oder schneller profitieren als andere. Aber: Der eindeutig schlechteste Weg wäre ein „Weiter so.“, denn damit schaden wir uns kollektiv selbst. Oder anders gesagt: Selbst aus der absolut eigennützigsten Sicht ist es im Sinne aller Beteiligten, die Digitalisierung im deutschen Gesundheitssystem voranzutreiben – man müsste noch nicht einmal das Gemeinwohl im Hinterkopf haben.

Mein Wunsch wäre daher ein „konstruktiver Pragmatismus“: Wenn es Bedenken zur Nutzung der ePA gibt, kann man sie einfach via Opt-Out nicht nutzen oder – noch viel besser – Schritt für Schritt zu ihrer Verbesserung beitragen – aber in keinem Fall das Vorhaben als Ganzes auf dem Klageweg blockieren. Wenn man im e-Rezept eine Gefahr für Offizin-Apotheken sieht: Dann sollte man einen Schritt zurückmachen und gemeinsam überlegen, wie die – so wichtige! – Rolle der Apotheken im Leben der Patient:innen in Zukunft aussehen kann und muss. Und ob das e-Rezept wirklich eine Gefahr ist: In 17 europäischen Staaten gibt es das e-Rezept schon, und in keinem dieser Länder ist die Offizin-Apotheke verschwunden.

Ich lege jetzt ein Holzscheit nach, freue mich bei „Ein bisschen Frieden“ auf unseren nächsten ESC-Sieg und die ersten Früchte der Digitalstrategie.

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