Augen auf und durch: Auch mit dem Kopf im Sand ist morgen morgen.
Schön, dass Sie sich selbst mitten in der Urlaubszeit, wohl entweder bei sengender Hitze oder Starkregen, die Zeit für unseren zweiwöchentlichen Streifzug durch meine Digital Health Notizen nehmen. So viel kann ich vorwegnehmen: Die Berliner waren nicht die einzigen, die sich in letzter Zeit recht verwundert die Augen gerieben haben.
Ja, so ein Sommerloch bringt dann und wann wahre Juwelen hervor. Verständlich: Wenn die Politik Pause macht, Unternehmen herunterfahren und man selbst etwas zur Ruhe kommt – wenn also einfach wenig Berichtenswertes passiert – treibt die Absurdität bunte, nach Aufmerksamkeit heischende Blüten. Während sich die Berliner Löwinnen-Jagd letztlich als eine fehlgedeutete Eber-Erscheinung entpuppte, und ich all die immer schrilleren Zeitungsaufmacher Tag für Tag nach Kräften auszublenden versuchte, haben es drei Meldungen dann doch über meine Wahrnehmungsschwelle geschafft.
Aber machen wir zunächst einen großen Schritt zurück: Was haben Videotheken, Reisebüros, Buchläden, Bank- und Postfilialen gemeinsam? Auf den ersten Blick ist wohl allen gemein, dass es von ihnen inzwischen deutlich weniger als früher gibt und – das wäre meine Annahme – dass der letzte Besuch auch bei Ihnen schon ein Weilchen her sein dürfte. Viel interessanter aber: Vor nicht einmal 20 Jahren waren Videotheken neben dem linearen Fernsehen der zweite große Pfeiler der heimischen Abendunterhaltung. Bankfilialen waren lange Zeit der einzige Ort, um Überweisungen abzugeben und die großen Postfilialen das morgendliche Ziel, um verpasste Pakete abzuholen. Bücher bestellte man einen großen Teil seines Lebens an einen Tag im Laden, holte sie tags darauf ebendort ab, und die Urlaubsplanung überlies man nicht selten dem freundlichen Personal im Reisebüro. Sprich: Der Zugang zu Wissen, zu Mobilität, zu Unterhaltung, gar zu Geld war für sehr, sehr lange Zeit ein „Brick-and-Mortar“-Geschäft – er fand über das Betreten eines Geschäftes aus „Ziegeln und Mörtel“ statt. Was also ist in der Zwischenzeit passiert? Ganz technokratisch: Das Internet ermöglichte die Virtualisierung vieler Brick-and-Mortar-Angebote. Filme streamt man heute, Geld überweist man via Onlinebanking, Fotos bestellt man – wenn überhaupt – online oder druckt vor Ort in der Drogerie, Reisen bucht man zeitgleich auf Couch und Tablet, und Bücher bestellen viele von uns bei Amazon und Konsorten. Nun mag man es gut oder schlecht finden, dass es weniger Videotheken, Bankfilialen oder Buchläden gibt. Fest steht: Würden nicht sehr, sehr viele Menschen diese Angebote nutzen, hätte es diese Veränderung nie gegeben. Denn was im Kern wirklich passiert ist, ist schlicht die Entwicklung von Angeboten, die die Bedürfnisse der Konsumenten besser erfüllen: Kein Angebot ohne Nachfrage.
Doch genug der Abschweifung: Kommen wir zu den besagten drei Meldungen und meinem eigentlichen Thema in dieser Woche: Apotheken.
Meldung Nummer eins: Der ABDA (die Bundesvereinigung Deutscher Apothekenverbände) spricht sich ausdrücklich gegen eigene Apps der Krankenkassen zur Verwaltung und Einlösung von e-Rezepten aus – denn das könnte zu einem Wildwuchs führen, der den Kassen eine Steuerung der Versorgung ermöglichen könnte. Meldung Nummer zwei: Nach einem Urteil des Landgerichts Berlin darf der Medikamenten-Lieferservice Mayd nun nicht mehr an Sonn- und Feiertagen ausliefern, weil hierdurch nach dem Ladenöffnungs- und Feiertagsgesetz die „äußere Ruhe des Tages gestört wird“, anders als z. B. bei Essenslieferdiensten. Und Meldung Nummer drei – über die ich bei meiner weiteren Recherche gestolpert bin: Das Bundesgesundheitsministerium muss nun festlegen, welche Pauschale Apotheken von den gesetzlichen Krankenkassen für die Finanzierung der e-Rezept Infrastruktur erhalten, weil man sich auch nach langen Verhandlungen nicht darauf einigen konnte.
Mein erster Gedanke: Wollen wir’s mit der Digitalisierung vielleicht doch einfach lassen?
Natürlich nicht, aber lassen Sie mich zusammenfassen: Die Krankenkassen stellen sich bei der Unterstützung der Apotheken beim e-Rezept-Infrastruktur quer, die Apotheken blocken aus Angst vor der Online-Konkurrenz und der möglichen „Versorgungssteuerung durch Krankenkassen“, und nach aktueller Rechtsprechung scheint es attraktiver zu sein, dass Menschen an Sonn- und Feiertagen für Paracentamol und Pflaster die Notaufnahmen fluten, als Apotheken (freiwillig) auch außerhalb der Ladenöffnungszeiten liefern zu lassen.
Jetzt könnte ich – wie so oft schon zuvor – ein Klagelied anstimmen: „Kooperiert doch – sonst kriegen wir das nicht hin mit der Digitalisierung.“ „Hört auf, Euch im Weg zu stehen, das geht zu Lasten der Versorgung.“ „Investiert Zeit und Energie doch lieber in Innovation.“ – aber seien wir ehrlich: Das nutzt sich ab.
Lassen Sie mich stattdessen die Entwicklung einfach ganz klar fortschreiben: Das e-Rezept wird in der breiten Masse ankommen. Und die Patient:innen werden es nutzen. Sie werden bei Online-Apotheken bestellen, wenn sie warten können, und sie werden eine Offizin-Apotheke besuchen, wenn Sie es eilig haben oder einfach möchten. Fachliche Beratung wird es online und in der Apotheke geben und je nach Präferenz werden manche Patient:innen in der Apotheke vorbeischauen und andere sich im Video-Chat beraten lassen. Preise und Rabatte werden ein stärkeres Differenzierungsmerkmal bei nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und OTC-Produkten sein, genauso wie die Zusatzleistungen der Apotheken. Patient:innen werden ihre Medikamente mit Lieferdiensten erhalten, ob über Uber, Mayd, Amazon oder Apotheken-eigene Fahrer:innen. Nicht nur stationäre Apotheken werden also weiter Online-Konkurrenz bekommen, auch im attraktiven Markt der Online-Apotheken werden sich Player wie Amazon auf die ein oder andere Art hierzulande positionieren. In den aktuell unversorgten ländlichen Regionen wird es nicht mehr Apotheken geben als heute, dieser Bedarf wird vor allem durch digitale Angebote abgedeckt werden. Und in den Ballungszentren wird es zu einer (weiteren) Konsolidierung kommen. Kurzum: Apotheken werden auch in Zukunft eine zentrale Rolle für die Versorgung spielen, aber diese Rolle wird sich verändern.
Allen Beteiligten steht es natürlich jetzt frei, sich diesen Entwicklungen entgegenzustellen – etwa in der Hoffnung, den Status Quo noch möglichst lange aufrecht zu erhalten – das geht dann eben zu Lasten einer modernen und effizienteren Versorgung. Oder aber sich ein weiteres Mal neu zu erfinden, und den eigenen neuen Platz in der Versorgung aktiv und rechtzeitig zu gestalten. Beide Fälle wird es geben, schließlich gibt es auch heute auch noch erfolgreiche Buchläden oder Reisebüros, nur eben anders – manche größer, manche spezialisierter – in jedem Fall aber weniger.
Ich packe jetzt für einen kurzen Köln-Trip – im Rhein wurden offenbar Delfine gesichtet – und wir sehen uns an dieser Stelle in zwei Wochen wieder, wenn Sie mögen.
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Torsten Christann
Managing Partner